Die Perle auf dem Hühnerstall 

 

Seltsames ging an diesem Morgen auf dem Hof vor. Nicht Valerie, sondern Hendrik hatte die Luke des Hühnerstalls geöffnet. Und was noch seltsamer war. Es gab kein Futter.

In der Nähe des Zauns, saß Clarissa geschützt unter einem Busch, und suchte die Umgebung nach Valeries vertrauter Gestalt ab. Doch nur Hendrik rannte über den Hof, verschwand im Haus und hastete gleich darauf erneut über das Grundstück. Auf der Terrasse, unmittelbar neben demGeflügelauslauf, stapelte er Holzstühle, einen Tisch und Teppiche neben einem hohen Schrank.

„Das gibt es doch gar nicht“, murmelte er unentwegt. Er riss die Schubladen des Schranks weit auf, kramte darin herum und knallte sie wieder zu. Dann lief er zurück ins Haus. Kurz darauf fuhr ratternd und klappernd ein LKW auf den Hof. Er hielt mit einem zischenden Geräusch vor dem Möbelstapel und eine stinkende Wolke wehte zu Clarissa herüber. Der Rauch kribbelte so heftig in ihrer Nase, dass sie niesen musste. Zwei Männer stiegen aus und begutachteten die Möbel.

„Guten Morgen.“ Hendrik steckte den Kopf durch dasgeöffnete Fenster. „Das kann alles weg.“

Die Männer packten als erstes den Schrank und hoben ihnan. Er kippelte.

„Absetzen!“, schrie der eine. Zu spät. Der Schrank fiel vornüber und krachte auf den Boden. Es knirschte und quietschte, als das Holz zerbarst. Splitter flogen umher.

Die Männer schrien sich an und fuchtelten mit den Armen. Ihre Gesichter waren rot angelaufen.

Wie die Hähne, dachte Clarissa.

Ein Windstoß wirbelte Späne und Holzstückchen über den Boden. Clarissa verfolgte mit dem Blick ein Stück Papier, das vom Wind getragen aufstieg, über den Zaun segelte und direkt vor ihren Füßen landete. Kringel und Kreise bedeckten es, die aussahen, als sei ein Huhn darüber gelaufen. Clarissa stellte eine Kralle darauf.

Mit finsteren Mienen sammelten die Männer die sperrigen Einzelteile zusammen und warfen sie auf die Ladefläche des Wagens. Dann fuhren sie davon. Mit dem Verklingen des Motorengeräusches kehrte die Ruhe auf den Hof zurück. Noch glitzerte Morgentau auf der Wiese und die Feuchtigkeit wellte dasPapier unter Clarissas Krallen.

Neugierig kam Flo angelaufen. Mit der Hoffnung auf einen Leckerbissen, pickte sie hektisch an dem Zettel herum. Sie zupfte ein Stück abund schluckte es herunter. Dann reckte sie den Hals und würgte, weil das Papierin ihrem Hals steckte. Doch der Fetzen kam nicht mehr zum Vorschein.

„Du wirst dich nochmal umbringen“, sagte Clarissa und schüttelte den Kopf.

„Ich hab Hunger!“

„Du hast immer Hunger. Guck doch wenigstens, was dufrisst. Der Zettel gehört mir.“ Clarissa hackte Flo zur Seite. Sie nahm das Papier in den Schnabel und trug es zum Stall. Dort schob sie es unter das Stroh ihres Legenestes, so dass es nicht zu sehen war. Die anderen Hennen beachteten sie nicht. Zu eifrig waren sie damit beschäftigt, am Boden nach übriggebliebenen Körnern vom Vortag zu picken.

„Wo bleibt denn Valerie?“, krächzte Perle von der Sitzstange herunter. „Wann kapieren die Menschen, dass wir nur das zum Lebenhaben, was sie uns geben?“ Ihre breiten Kehllappen wackelten unwillig. Clarissa kam es vor, als wäre Perles grauweiße Gesichtshaut noch eine Spur bleicher als sonst.

„Sei nicht ungerecht. Valerie hat uns noch nie vergessen“, erwiderte sie. Der beruhigende Tonfall in ihrer Stimme galt nicht nur Perle, sondern besonders ihr selbst. In ihrem ganzen Leben gab es keinen Tag, an dem Valerie sich nicht um sie alle gekümmert hatte.

„Gib doch mal den Warnruf ab. Dann kommt sie auf jedenFall“, bat Clarissa.

Sofort hüpfte Perle nach draußen und flatterte auf das Dach des Stalls. Ihre Krallen schabten über das Blech wie Kreide auf einer Schiefertafel.

„Hört mal alle her! Ich gebe jetzt Habichtalarm. Das ist nur ein Trick, um Valerie herauszulocken.“ Sie reckte den dünnen Hals und öffnete den Schnabel so weit es ging.

„Tschekerekekek!“, hallte ihr Schrei über das Grundstück.

„Habicht, Habicht!“, kreischte Flo. Hektisch flatterte sie mit den Flügeln und rannte so ziellos über den Auslauf, als habe man ihrden Kopf abgeschlagen.

„Flo!Flo! Pro-be-a-larm!“ Perle starrte vom Dach herunter auf den Boden.

Flo blieb stehen. Ihre Flügel hingen seitlich herunter.„Warum sagt denn das keiner?“

„Hab ich doch. Du hast wieder nichts mitgekriegt, weil du mit Fressen beschäftigt warst.“

„Ach so, ach so.“ Ein wenig verlegen ordnete Flo mit demSchnabel die rostfarbenen Brustfedern, während ihre Krallen bereits wieder imBoden nach Kerbtieren scharrten.

Perle wiederholte den Warnruf. Danach noch einmal. Aber nichts geschah.

 

 

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